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Über den Roman

(Ein Essay von Bodo Gaßmann: Versuch einer Apologie des Romans
am Beispiel von Arno Kaisers „Fieber“ und anderer Romane)

(Die Erzählperspektive am Beispiel der Kriegsromane - 2. Teil)

Eine andere literarische Technik verfolgt dagegen der Roman „Heeresbericht“ von Edlef Köppen (1929). Zwar wird auch hier der Krieg aus der subjektiven Perspektive erzählt, aber nicht auf diese beschränkt. Neben der Ich-Perspektive der Hauptfigur Reisiger in Form von Tagebuchaufzeichnungen wird größtenteils das personale Erzählen angewandt, einmal aus der Sicht der Hauptfigur, dann aber auch aus der Perspektive anderer unmittelbar Beteiligter. Das personale Erzählen wechselt zur erlebten Rede oder ist Erzählerbericht, der mit lakonischen Worten und unpathetisch den Kriegsalltag verdeutlicht. Was den Roman vor allem anderen auszeichnet, ist der ständige Einbau von Dokumenten, die auf den Inhalt der subjektiven Perspektive abgestimmt sind. So wird einem Leutnant im Trommelfeuer der Kopf weggeschossen - danach wird eine Annonce in den Text montiert, in der für Pauschalreisen nach dem Krieg zu den Kriegsgräbern geworben wird. Oder es werden Zensurbestimmungen einmontiert, die zeigen, wie das Bewusstsein der „Heimatfront“ manipuliert wird. Gehäuft werden Verlautbarungen des Kaisers und der Generäle eingebaut, die in Konfrontation mit Erlebnissen Reisigers das Sterben verhöhnen, indem sie es mit Phrasen rechtfertigen. Andere zeigen wie bei Karl Kraus den „Untergang der Menschheit“, nämlich den Verlust eines rationalen Bewusstseins:
„Jetzt ist es Zeit, Gesinnungsgenossen! Die große, aber furchtbare Zeit bringt auch den ärgsten Zweifler, den verstocktesten Materialisten zum Bewußtsein, daß alle schweren Opfer, die das deutsche Volk jetzt bringt, vergeblich wären, wenn mit dem Tode alles aus wäre.“ (S. 81)
Die Montage von Dokumenten erweitert den Blick der subjektiven Perspektive, stellt Zusammenhänge mit den Verlautbarungen der Heeresführung her, liefert „Heeresberichte“, die das brutale Geschehen an der Front meist ideologisch einordnen und so den Lesern die Kriegsideologie erkennbar machen. Das dokumentarische Material sprengt die fragwürdig gewordene Autonomie des Romans und erweitert ihn in politische Zusammenhänge. Die Realität blitzt momentan in der Fiktion auf und öffnet den Blick auf die Objektivität.
Die Grenzen des Dokumentarischen bei Köppen liegen aber ebenso offen zu Tage. Die Dokumente stellen nur kommentarlos dar, appellieren deshalb an eine humanistische Moral, die in den Reihen der Heeresleitung – wenn überhaupt – zur Propaganda gehört und die 1929, zur Erscheinungszeit des Romans, bei den deutschen Faschisten nur Verachtung hervorruft. Der humanistische Appell, der durch die Konfrontation von Kriegserlebnis und Dokument entsteht, bleibt abstrakt moralisierend. So zeigt die „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ wie diese ihren Geist aufgeben, wenn sie von „Pflichttreue“, „Opfermut“, dem „Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet“ faseln und ihre jungen Studenten als Menschenmaterial in die Schützengräben schicken. „Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft.“ (S. 8) Solche Worte können nur provozieren, wenn es noch eine humane Moral gibt. Die aber ist selbst im Entschwinden.
Auch die Tendenz des Romans bleibt im Pazifistischen und im Moralisieren stehen. Reisiger, der anfangs begeistert in den Krieg zieht, bekommt allmählich Zweifel, erkennt den „Wahnsinn“ des Krieges, sieht, dass die Soldaten nur das „Menschenmaterial“ für die Heeresleitung sind. Durch die Beförderung zum Leutnant besänftigt er zeitweise seine Zweifel, um dann gegen Ende des Krieges diesen als Mord zu erkennen und sich zu verweigern, was zu seiner Inhaftierung in einer Irrenanstalt führt. Er wird für verrückt erklärt, weil er die Verrücktheit des Krieges erkennt.
Das aber ist wieder bloß moralisierend, nur ein pazifistischer Appell. In dem Buch von Köppen wird in keiner Zeile auf die Ursachen des Krieges eingegangen, die sich aus dem kapitalistischen Konkurrenzkampf der Nationen und dem feudalen Militarismus speziell in Deutschland ergaben. Das aber ist keine Schwäche des dokumentarischen Romans selbst, sondern die von Köppens „Heeresbericht“. Dabei waren diese Erkenntnisse durchaus in der Arbeiterbewegung und in linksintellektuellen Kreisen verbreitet. Entsprechend stellt Köppen, wie Horkheimer bemerkte, auch keinen „einzulösenden Anspruch an eine bestimmte staatliche und gesellschaftliche Ordnung“, die zukünftige Kriege verhindern könnte, geschweige denn, dass er wie Lenin fordert, den imperialistischen Krieg der Nationen umzuwandeln in den Krieg gegen seine Verursacher, die herrschenden Klassen, der also zur Revolution aufruft.
Angesichts der erwähnten drei Kriegsromane, die von einer übermächtigen Kriegs- und Staatsmaschinerie ausgehen, in der die Einzelnen zum bloßen „Menschenmaterial“ werden, in denen ein übermächtiger Staat alles bestimmt, stellt sich die Frage, wieso auch in „Fieber“ ein erlebendes Ich erzählt. Doch es gibt Parallelen. Führt nicht auch das „Ministerium für Staatssicherheit“ einen Krieg gegen die Bevölkerung, wenn auch nicht mir schweren Waffen. Der Autor kann diese Perspektive nur anwenden, wenn er die Objektivität der Gesellschaft nicht außen vor lässt. Diese kommt in den Roman vor allem durch das erzählende und reflektierende Ich hinein, das eine Gesellschaftstheorie und Moralphilosophie  als Hintergrund hat, sowie durch die dokumentarischen Teile des Romans und nicht zuletzt durch das erlebende Ich, das sich bereits während seines Studiums in Leipzig, durch seine Erfahrungen in Prag und seine „Universität“ im Gefängnis (Lektüre, Diskussionen, Zwang zur Entscheidung) langsam auf das Niveau des erzählenden Ichs hocharbeitet.
Der Autor will die Auswirkungen der gesellschaftlichen Mächte auf den Protagonisten deutlich machen. Das erlebende Ich entwickelt sich als junger Erwachsener meist gegen den Einfluss des Staates, kann sich nur Bildung aneignen gegen die SED-Ideologie. Insofern hat er schon als Jugendlicher die Identifikation mit dem „Großen und Ganzen“ der DDR-Wirklichkeit durchbrochen. Das geht aber nur durch eine Darstellung mittels eines erlebenden Ichs. Kaiser will nicht nur Erfahrungen mit der DDR wiedergeben, sondern auch anhand der Entwicklung des Protagnisten Karl Heinz Bender dessen Entwicklung und Bildungsweg trotz der widrigen Umstände darstellen. Soll nicht wie bei Goethes „Wilhelm Meister“ eine Erziehungsgesellschaft die Entwicklung leiten, was märchenhaft wäre, dann geht dies nur aus der Perspektive eines erlebenden Ich-Erzählers. Der Leser erlebt mit dem Protagonisten seinen Gang zum reifen Menschen mit allen Umwegen, Versagen und Schwächen. Diese subjektive Perspektive wird aber vielfältig gebrochen: durch die Erzählerkommentare 40 Jahre danach, durch die Verfremdungstechnik, durch den Verweis auf den Zufall und die Übermacht der Politik auf den Werdegang von Bender und nicht zuletzt durch die dokumentarischen Einsprengsel im Roman.
Auch Kaiser durchbricht die Immanenz der Fiktion durch das Dokumentarische. Das beginnt schon mit den ersten zwei Seiten, in denen einige wichtige politische Ereignisse von 1968 dargestellt werden. Sie stimmen wie bei Wolfgang Koeppens „Treibhaus“ auf die historischen Hintergründe ein. Sie zeigen z. B., dass auch eine umstandslose Identifizierung mit dem „freien Westen“ durch die Ereignisse des Vietnamkrieges für einen denkenden Menschen nicht möglich war. Dieser quasi dokumentarische Anfang ist eine Objektivierung des eigentlichen Beginns mit den Fantasien des fieberkranken Bender.
Die mehr oder weniger dokumentarische allgemeine Darstellung der Zwangsarbeit in den Gefängnissen der DDR macht die Besonderheit des Arbeitslagers Rackwitz verständlich. Auch werden die Richtlinien der Stasi zur Zersetzung von Personen zitiert, sodass ihre fast vollständige Anwendung auf den Protagonisten als typisch für diese Geheimpolizei erkennbar wird. Quasi dokumentarisch ist auch die Rede des Gefängnisdirektors, die sich auf einen Ausbrecher und Mörder bezieht und das Sicherheitsdenken dieses Gefängnisapparats verdeutlicht, der auch vor Kollektivbestrafung nicht zurückschreckt. In einem zitierten Kassiber, dessen Namen lediglich geändert wurden, blitzt die Realität der Drangsal und der Machenschaften der Stasi direkt in der Fiktion des Romans auf.
All diese Dokumente sind notwendig, um die Reduktion auf die subjektive Perspektive zu verhindern. Durch das Dokumentarische in „Fieber“ weitet sich der Blick über das erlebende und erzählende Ich hinaus und konfrontiert das Erlebte mit dem Allgemeinen und Typischen. Auch das Flugblatt, das Bender verfasst, wenn auch vom Erzähler/Autor aus dem Kopf zitiert, gehört in diesen Zusammenhang. Original ist auch die Antwort des Staatsanwaltes (bis auf einige Namen) auf den Aufsatz von Bender (auch dokumentiert), in dem er es ablehnt, sich zur DDR als „Vaterland“ zu bekennen. Sie zeigt dem historisch kundigen Leser, wie blödsinnig diese Vaterlandsideologie heute erscheint. (Ein Mensch, der 1930 geboren wurde, hatte nacheinander die Weimarer Republik, Nazideutschland, eines der deutsch Länder und dann die DDR als „Vaterland“, um dann nach der Wende wieder das gesamte Deutschland sein Vaterland nennen zu müssen – so viele „Vaterländer“ kann ein Leben gar nicht verkraften, ohne ideologisch irre zu werden!) Die Antwort des Staatsanwaltes, der junge Bender habe nichts dazugelernt, erscheint als Hohn auf den Lernprozess, den der Protagonist durchläuft und der sich in seinem Mut ausdrückt, sich der üblichen Heuchelei zu verweigern.
Nicht zuletzt gehört das, was der Untertitel sagt: „Nach autobiografischen Motiven“, zu dem Dokumentarischen. Vor allem die Schilderung der Folter bei der Kripo in Nordhausen kann der Historiker getrost als Dokument übernehmen – auf die dokumentarische Echtheit dieser Darstellung weist der Erzähler bzw. der Autor selbst hin.

Gewiss, der Roman „Fieber“ ist kein Dokumentarroman, sondern hat nur dokumentarische Splitter. Damit diese nicht in Konfrontation mit der Handlung bloß illustrierend wirken oder gar zum Moralisieren anregen sollen, hat der Erzähler sie meist eingebettet in den Kommentar oder die Handlung, sie dienen der vertiefenden Analyse, nicht einem vermeintlichen Appell.

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Eine Anmerkung zum Verhältnis von Autor und Erzähler (6)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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